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Ein Sonderopfer ausgerechnet in der Corona-Krise?

Das Corona-Virus ist heimtückisch. Bestimmte Personen sind besonders gefährdet. Sie sind auch besonders zu schützen. Arbeitgeberinnen sind verpflichtet, besonders gefährdete Personen zu schützen. Sie sind nicht selten dazu gezwungen, besonders gefährdete Personen unter Lohnfortzahlung freizustellen. Ihre Leistung verdient Anerkennung.

Drunter und drüber ging es beim Bund. Der Bundesrat hat die Schweiz monatelang in Atem gehalten. Eine Verschnaufpause blieb uns nicht vergönnt. Fast täglich gab der Bundesrat eine Pressekonferenz. Allein die COVID-19-Verordnung 2, die das Herz der Notstandsgesetze ausmachte, wurde über zwanzigmal abgeändert. Selbstverständlich zum Schutz der Bevölkerung. Insbesondere zum Schutz besonders gefährdeter Personen.

Besonders gefährdete Arbeitnehmer mussten zuerst «beurlaubt» werden und dann «freigestellt» werden. Zwischenzeitlich durften sie wieder im Betrieb beschäftigt werden. Dann nur noch, wenn sie im Betrieb so gut geschützt waren wie zu Hause. Dann wiederum nicht, weil es nicht genügend Schutzmasken gab. Dann immer noch nicht, weil den besonders gefährdeten Arbeitnehmern nicht zugetraut wurde, eine Schutzmaske zu tragen. Dann endlich doch wieder, weil der Bundesrat seinen Segen dazu gab, dass besonders gefährdete Arbeitnehmer vom Front- ins Backoffice versetzt werden durften. Dies allerdings nur dann, wenn die Arbeit im Backoffice als gleichwertig beurteilt wurde. Und dann nicht, wenn sich der besonders gefährdete Arbeitnehmer am – mitunter aufwendig umgestalteten – Arbeitsplatz nicht genügend geschützt fühlte …

Darum geht es

Besonders gefährdete Arbeitnehmer müssen von den Arbeitgeberinnen besonders geschützt werden. In der Corona-Krise ist der Schutz besonders gefährdeter Arbeitnehmer mit einem finanziellen Sonderopfer verbunden. Dafür gebührt den Arbeitgeberinnen eine finanzielle Entschädigung.

Das Virus geht, die Angst bleibt

Das Virus ist mittlerweile fast verschwunden. Der Bundesrat hat offensichtlich vieles richtig gemacht. Die Boulevardmedien verteilten bereits Bestnoten.

Zurück bleiben viele unbeantwortete Fragen. Kann man sich auf das Unvorhersehbare vorbereiten? Kann man Geld und Leben gegeneinander abwägen? Wieso machen wir es täglich dennoch? Darf man betagte Menschen in Alters- und Pflegeheimen wegsperren? Auch dann, wenn sie im Sterben liegen? Welche Unternehmen sind systemrelevant? Für welches System? Gibt es in einer Marktwirtschaft überhaupt irrelevante Unternehmen? Sind Arbeiter schützenswerter als Angestellte? Wieso waren dann die Auflagen für Industriebetriebe strenger als für Versicherungsagenturen? Sollen besonders gefährdete Arbeitnehmer nicht selber entscheiden, welche Risiken sie in Kauf nehmen wollen? Sind Arbeitnehmer, die oft hochkomplexe Aufgaben verrichten, wirklich nicht in der Lage, eine Schutzmaske zu tragen? Wieso werden schwangere Frauen nicht ausdrücklich zu den besonders gefährdeten Personen gezählt?

«Normalität» ist das Gebot der Stunde. Viele Fragen werden wohl unbeantwortet bleiben. Es fehlt bereits die Zeit, über die Fragen nachzudenken. Zu gross ist die Herausforderung, die drohende Wirtschaftskrise abzuwenden.

Die Bilder, die sich in unseren Köpfen eingebrannt haben, werden jedoch nicht so schnell wieder verschwinden. Beispielsweise das gespenstische Bild der menschenleeren Gleise in den Bahnhöfen. Das irritierende Bild der leeren Regale in den Lebensmittelgeschäften. Das eindrückliche Bild der erschöpften Pflegerinnen aus Norditalien. Das fürchterliche Bild der bewaffneten Protestler aus Michigan.

Solche Bilder sind Zeichen für unsere Ängste. Dass diese Bilder nicht aus unseren Köpfen verschwinden, liegt auch daran, dass in der Corona-Krise etwas Entscheidendes verdrängt worden ist.

Während wir Wochenende für Wochenende isoliert zu Hause sassen, auf die Aktualisierung der Corona-Kurve warteten, fassungslos mit den Italienern mitlitten, gespannt die neusten Entscheide des Bundesrats abwarteten, die abstrusesten Verschwörungstheorien überprüften, ging vor allem vergessen, dass wir die Corona-Krise – wie jede Krise – nur gemeinsam meistern können.

Ist es richtig, dass die Arbeitslosenkassen zurzeit Kurzarbeitsentschädigungen ausrichten, ohne dass die Arbeitnehmer vorgängig ihre Überstunden abgebaut haben müssen? Ist es angemessen, dass Arbeitnehmer, die Kurzarbeit leisten, bis zum 31. August 2020 einen Zwischenverdienst erzielen können, ohne sich diesen Verdienst anrechnen lassen zu müssen? War es klug, dass die Arbeitsämter Kurzarbeitsgesuche bewilligten, ohne zu prüfen, ob die Arbeitnehmer mit der Kurzarbeit überhaupt einverstanden sind?

Durch Kurzarbeit sollen Kündigungen vermieden werden. Das Einverständnis der Arbeitnehmer zu Kurzarbeit ist ein Akt der Solidarität nicht mit der Arbeitgeberin, sondern mit den Arbeitskollegen. Sogar dieser Akt wurde angesichts der Krise für verzichtbar gehalten. Wer solche «Erleichterungen» beschliesst, darf sich über Hamsterkäufe nicht wundern!

Man darf es sich natürlich nicht zu einfach machen. Hinterher weiss man es immer besser. Den Bundesrat jetzt zu kritisieren, ist billig. Es ist aber nie zu spät, um klüger zu werden.

Die Regeln, die für den Arbeitsmarkt gelten, sind über hundert Jahre gewachsen. Sie sind nicht beliebig austauschbar. Sie haben eine Funktion. Sie haben sich bewährt. Gerade auch in Krisenzeiten.

«Wir können die Krise nur gemeinsam meistern»

Die Schwächsten beissen die Hunde

Ganz besonders stossend ist es, dass besonders gefährdete Arbeitnehmer – immer noch – freigestellt sind. Unter zeitlich unbegrenzter Lohnfortzahlung! So sehen es die Notstandsgesetze des Bundesrats vor.

Darüber, dass die Zeiger bereits wieder auf «Normalität» stehen, ist vielerorts vergessen gegangen, dass besonders gefährdete Arbeitnehmer heute immer noch – unter zeitlich unbegrenzter Lohnfortzahlung – freigestellt sind.

Es ist nicht eine Handvoll besonders gefährdeter Arbeitnehmer, die zurzeit freigestellt sind. Es sind alle diejenigen, die im Betrieb nicht angemessen geschützt werden können, aber auch keine Arbeit im Homeoffice verrichten können. Das sind Ärzte, Busfahrer, Coiffeure usw. Sie sitzen mittlerweile seit dem 17. März 2020 zu Hause.

Arbeitgeberinnen, die besonders gefährdeten Arbeitnehmern den Lohn fortzahlen, sollen unter bestimmten Umständen Kurzarbeitsentschädigung geltend machen können. Die Lohnfortzahlungspflicht der Arbeitgeberinnen wird damit aber in ein enges Prokrustesbett gezwängt. Ein annehmbares Angebot ist das nicht.

Jedenfalls Arbeitgeberinnen, denen für ihre Arbeitnehmer keine Kurzarbeitsentschädigung ausgerichtet wird, haben für die Lohnfortzahlung an die besonders gefährdeten Arbeitnehmer selber aufzukommen. Sie erbringen eine Leistung, die in unserem Obligationenrecht, das die allgemeinen Lebensrisiken sehr sorgfältig verteilt, nicht vorgesehen ist. Sie erbringen ein finanzielles Sonderopfer zugunsten der Allgemeinheit.

Der Bund hat die Geldtöpfe weit geöffnet. Weshalb ausgerechnet diejenigen, welche besonders Gefährdete schützen, leer ausgehen sollen, ist kaum nachvollziehbar.

Kündigungsschutz geniessen besonders gefährdete Arbeitnehmer nicht. Die Opferbereitschaft der Arbeitgeberinnen sollte deshalb nicht überstrapaziert werden. Wenn eine schleichende Entlassung besonders gefährdeter Arbeitnehmer verhindert werden soll, ist es dringend geboten, die Arbeitgeberinnen für ihr Sonderopfer zu entschädigen. Die Leistung der Arbeitgeberinnen verdient zumindest Anerkennung.

Fazit

Sonderopfer sind bisweilen notwendig. Manchmal erbringt man ein Sonderopfer sogar gerne. Um zu helfen, um einen Betrag zur Bewältigung einer Krise zu leisten. Sonderopfer sind aber keine Selbstverständlichkeit. Sonst wären Sonderopfer keine Sonderopfer mehr.