Langfristige Lösungen

Der Blick auf die Daten zeigt: Trotz der Digitalisierung und Automatisierung verschärft sich der Fachkräftemangel weiter. Gleichzeitig verwandelt die technologische Revolution die Art und Weise, wie wir zukünftig arbeiten – laut OECD ist jeder zweite Beruf in den nächsten 15 bis 20 Jahren tiefgreifenden Veränderungen ausgesetzt. Gefragt sind langfristige Massnahmen und ein konsequentes Ausnutzen der neuen Möglichkeiten und Chancen.

 

Herausforderung Fachkräftemangel

Epoche der Veränderungen

Digitalisierung, Globalisierung und demografische Entwicklung beeinflussen unser Leben, unsere Kultur und Gesellschaft massiv, so eine Studie der OECD1. Nach Ansicht der Organisation für wirtschaftliche Entwicklung und Zusammenarbeit wirkt sich das auf die Einkommens- respektive die Vermögensverteilung sowie darauf aus, was und wie wir künftig arbeiten. Es handle sich um eine Epoche der Veränderungen, in dem die Disruption eine neue Normalität darstellt. Wie jede Revolution bietet auch die jüngste einige Herausforderungen: Technologien verändern die Regeln und werden Teil des Alltags. Sie verstärken die Möglichkeiten für eine höhere Produktivität, verbesserte Services und für innovative Geschäftsmodelle, die sowohl den Arbeitgebern als auch -nehmern mehr Flexibilität verleihen.

Gerade in der Arbeitswelt liegen nach Ansicht der OECD massive Herausforderungen: Jobs im mittleren Segment sind der Revolution besonders ausgesetzt. Die Organisation schätzt, dass in den kommenden 15 bis 20 Jahren 14% aller Jobs als Resultat der Automatisierung und Digitalisierung verschwinden könnten. Weitere 32% werden sich fundamental verändern – insgesamt ist jeder zweite Beruf betroffen.

Steigender Bedarf an Arbeitskräften

Trotz fortschreitender Digitalisierung und der Zuwanderung gehen die Prognosen nach wie vor von einem hohen Bedarf an Arbeitskräften aus. Laut der Umfrage von Korn Ferry erwartet eine grosse Mehrheit der befragten rund 1500 Geschäftsführer einen Mangel an talentierten und qualifizierten Fachkräften. 95% der Manager gehen aber davon aus, die entstehenden Lücken füllen zu können. Dabei spielen der Einsatz moderner Technologien und die Schaffung hochstehender Arbeitsplätze eine wichtige Rolle.

Für Korn Ferry handelt es sich beim Fachkräftemangel nicht um eine temporäre Erscheinung, sondern um einen eigentlichen Strukturwandel. Dieser beschränkt sich nicht allein auf die Schweiz, er entwickelt sich zum globalen Phänomen: In China und den USA könnte bis ins Jahr 2030 ein Defizit von je rund 6,5 Millionen hochqualifizierten Mitarbeitern entstehen.

Ein globales Phänomen

Zuwanderung ist ein Mittel, um fehlende Ressourcen rasch quantitativ und qualitativ zu ersetzen. «Grundsätzlich sollte […] Zuwanderung nur bei einem vorliegenden Arbeitsplatzangebot erfolgen»2. Wie die Studie «Zuwanderung und Digitalisierung» der renommierten deutschen Bertelsmann Stiftung zeigt, stehen andere Länder vor ähnlichen ökonomischen und demografischen Problemen wie die Schweiz. So wird für Deutschland eine Personallücke von 2,5 Millionen bis ins Jahr 2030 vorausgesagt3. Das ist bemerkenswert, da unser nördliches Nachbarland gemäss Statistik in Bezug auf die Gesamteinwanderungsquote respektive bei höher und hochqualifizierten Fachkräften im Speziellen einen Spitzenrang einnimmt. Gerade Akademiker und Experten werden künftig noch verstärkt gefragt: «in vielen [...] OECD-Ländern ist zu beobachten, dass hoch qualifizierte Arbeitskräfte bessere Jobchancen haben, während die mittleren Qualifikationsebenen unter Druck geraten. Es ist deshalb damit zu rechnen, dass sich die Optionen und Chancen für Hochqualifizierte in der Heimat verbessern und ihre Motivation auszuwandern, sinkt»4.

Gefahr für BIP und Rentabilität

Fehlende Fachkräfte, die für eine Umsetzung der Geschäftsstrategie erforderlich sind, können gemäss Korn Ferry zum entscheidenden Thema des Zeitalters werden. Denn eine sinkende Zahl von Erwerbspersonen hat einerseits zur Folge, dass Arbeitsplätze nicht mehr besetzt werden und immer weniger Beschäftigte die kommenden Lasten schultern müssen – das betrifft etwa die weiter steigenden Ausgaben im Renten- und im Gesundheitsbereich. Auf der anderen Seite gefährden die personellen Lücken neben den nationalen BIP auch die Rentabilität der Firmen5: Schwierigkeiten, Vakanzen zu besetzen, führen zu Mehraufwand bei der Einstellung geeigneter Experten. Zudem verschieben sich die Argumente hinsichtlich Arbeitskonditionen und -bedingungen zugunsten der Arbeitnehmer, denn ein langfristiger Unternehmenserfolg hängt wesentlich von der effizienten sowie der richtigen Besetzung der Stellen ab. So kann der globale Fachkräftemangel die Löhne in den betroffenen Segmenten laut Schätzungen um USD 2,5 Billionen ansteigen lassen6. Wie die OECD kommt Korn Ferry darum zum Schluss, dass alle involvierten Partner mit ihren Massnahmen unter anderem auf Lern-Strategien fokussieren, um individuelle Möglichkeiten für lebens- respektive arbeitslebenslange Fort- und Weiterbildung zu verleihen, da entsprechende Massnahmen auf die Dauer insgesamt günstiger kommen.

Eine Trendwende in Sicht

Laut Studie der Adecco Group Schweiz und dem Soziologischen Institut der Universität Zürich7 herrschte 2018 in der Schweiz in verschiedenen Bereichen ein Fachkräftemangel – hier übersteigt die Zahl der offenen Stellen jene der registrierten Stellensuchenden deutlich. Angeführt wird die aktuellste Liste von Berufen des Treuhandwesens, gefolgt von solchen in der Technik, im Ingenieurwesen, in der Humanmedizin & Pharmazie und der Informatik. Trotz regionaler Abweichungen bezüglich Reihenfolge belegen diese Berufe in der gesamten Schweiz die ersten fünf Plätze. Am Schluss der Rangliste liegen Berufe in der Textilverarbeitung, im Druck und im Lagerwesen. «Hier gibt es […] geringe Beschäftigungsmöglichkeiten für die Stellensuchenden»8.

Zu ähnlichen Schlüssen zum Fachkräftemangel gelangt EY in der Studie von 2019: 49% von rund 700 befragten Unternehmen bekunden gemäss dem Wirtschaftsprüfungs- und Beratungsunternehmen «Schwierigkeiten bei der Rekrutierung geeigneter Angestellter»9. Diese Situation habe sich jedoch entspannt, lag dieser Anteil im Vorjahr doch bei 62%. «Der Anteil derer, denen es […] sehr schwer fällt, Fachpersonal zu finden, ist sogar von 17 auf nur noch 5% gesunken.»10 Offen bleibt, wie nachhaltig die Entwicklung ist und ob sich hier bereits eine Trendwende abzeichnet.

Umfassendes Indikatorensystem

Im Zusammenhang mit der Diskussion um den Fachkräftemangel stellt sich die Frage, wie ein Fachkräftemangel definiert wird, welche Kriterien angewendet werden. Das Staatsekretariat für Wirtschaft (SECO) erhielt 2016 den Auftrag, das seit dem Jahr 2014 bestehende «Indikatorensystem mit dem Ziel zu aktualisieren, ein umfassendes Gesamtbild zur Fachkräftenachfrage in den Berufen»11 zu bieten. Die Übersicht umfasst 36 Berufsfelder mit rund 380 Berufen, sie evaluiert zudem die zur Verfügung stehenden Potenziale anhand der Erwerbsbeteiligung und des Arbeitsvolumens.

Bei den Indikatoren, die «den Fachkräftebedarf in den einzelnen Berufen möglichst akkurat und gesamtheitlich abbilden»12, handelt es sich um die Arbeitslosenquote, die Quote der offenen Stellen, die Zuwanderungsquote, die Qualifikationsanforderungen, das Beschäftigungswachstum sowie den demografisch bedingten Ersatzbedarf. Diese Einzelelemente werden zu einem Index zusammengefasst, um ein Gesamtbild der Fachkräftesituation zu erhalten. Dieser ermittelte Gesamtindex stellt die objektive Basis für Vergleiche dar und «ermöglicht es, einzelne Berufe hinsichtlich des Fachkräftemangels einzuordnen»13.

Differenziertes Bild der Fachkräftesituation

Die Publikation «Fachkräftemangel in der Schweiz» liefert aufgrund dieses Indikatorensystems ein differenziertes Bild. Die Bilanz der Autoren: «Der Fachkräftemangel ist unterschiedlich stark ausgeprägt – die Abstufungen sind fliessend»14. So zeigen etwa das verarbeitende Gewerbe, der Lebens- und Genussmittelsektor, der Handel und Verkauf sowie die landwirtschaftlichen Berufe wenig Anzeichen für einen Fachkräftemangel. Am anderen Ende befinden sich Ingenieurberufe wie Technikerinnen und Techniker, Managementfunktionen, das Rechtswesen und Gesundheitsberufe «mit dem stärksten Verdacht auf Fachkräftemangel […] Starke Anzeichen für einen erhöhten Fachkräftebedarf zeigen […] Informatikberufe, die Werbe-, Tourismus- und Treuhandberufe oder die Bildungs- und Unterrichtsberufe»15.

Was ein diagnostizierter Fachkräftemangel in Bezug auf effektive Zahlen bedeutet, illustriert das Beispiel ICT: Aufgrund der Daten und Beobachtungen für diesen Bereich resultiert für das Jahr 2024 allein für die Berufe der Informations- und Kommunikationstechnologie ein zusätzlicher Fachkräftebedarf von rund 75'000 Personen – die Hälfte davon mit einem Hochschulabschluss. Dank Arbeitsmarkteintritten und der Einwanderung lässt sich ein Teil dieser Lücke in den kommenden fünf Jahren schliessen, trotzdem resultiert ein zusätzlicher Bedarf von rund 25'000 Personen16.

Grafik

Grafik Fachkräftemangel

 

Abbildung 1: Gesamtindex für Fachkräftebedarf – Übersicht über die Berufsfelder. Die rote Säule zeigt den Fachkräftebedarf für die Gesamtwirtschaft. Berufsfelder, die links davon aufgeführt werden, weisen einen im Vergleich höheren Fachkräftebedarf auf.

 

Unterschiedliche Fachkräfte-Strategien

Unabhängig von der Branche, verfolgen die Unternehmen unterschiedliche Ansätze, um die Konsequenzen eines Fachkräftemangels zu dämpfen: Zunächst versuchen sie, Neuabsolventen zu gewinnen. Eine Steigerung dieses Angebots durch gezielte Bildungsinitiativen trägt allerdings erst mittelfristig Früchte. Kurzfristig wird darum auf der einen Seite versucht, die Verpflichtung von Fachkräften durch höhere Löhne zu fördern, was sich auf die Ertrags- respektive die Wettbewerbssituation des Unternehmens auswirkt. Auf der anderen Seite werden ausländische Fachkräfte rekrutiert – diese Möglichkeit hängt jedoch stark von der politischen sowie wirtschaftlichen Entwicklung in der Schweiz wie im Ausland ab. Die Verpflichtung von Quereinsteigern wiederum ist mit höheren Schulungs- und Einarbeitungskosten respektive mit Produktivitätseinbussen und Auswirkungen auf die Wettbewerbsfähigkeit verbunden. Als weitere Alternative erlaubt ein Offshoring die ganze oder teilweise Auslagerung von Aufträgen. Hier besteht die Gefahr, einer nicht mehr umkehrbaren Lösung, falls entsprechende Ressourcen in der Schweiz nicht innert nützlicher Frist zur Verfügung gestellt werden.

Fokus auf langfristige Lösungen

Wenn die genannten Strategien ihr Ziel verfehlen, können Aufträge nicht, verspätet oder nicht in der gewünschten Qualität erfüllt werden; mit den entsprechenden Konsequenzen für die Unternehmen und Mitarbeitenden. Somit fragt sich, wie dem Fachkräftemangel effizient und effektiv begegnet wird. Denn «die Schweizer Wirtschaft ist auf Fachkräfte angewiesen, damit sie ihre Spitzenposition im internationalen Umfeld halten kann»17.

Mit der beruflichen Grundausbildung, seinem Aus- und Weiterbildungskonzept setzt das Bildungssystem bei einer längerfristigen Zurverfügungstellung der benötigten Fachkräfte an – auf diese Weise wird die Abhängigkeit von den nicht oder kaum beeinflussbaren ökonomischen und politischen Entwicklungen im Ausland minimiert. Auch Erfolg versprechend ist unter den aktuellen Voraussetzungen eine Steigerung der Erwerbsbeteiligung inländischer Arbeitskräfte mit den verlangten, meist hohen beruflichen Qualifikationen sowie die Anhebung der Arbeitspensen – genau in diesem Bereich setzt die 2011 lancierte, heute etablierte Fachkräfteinitiative an. Mehr zur FKI mit ihren Ansatzpunkten erfahren Sie in unserem nächsten Dossierbeitrag.

Quellenangabe

Fachkräftemangel Index Schweiz – Q1 2018. Adecco Group Schweiz und Universität Zürich.
www.oecd-ilibrary.org/sites/9ee00155-en/index.html
Future of Work. The Talent Shift. Cracking the crunch to unlock growth in the future of work. Korn Ferry. 2018.
Zuwanderung und Digitalisierung – Wie viel Migration aus Drittstaaten benötigt der deutsche Arbeitsmarkt künftig? Johann Fuchs, Alexander Kubis und Lutz Schneider. Bertelsmanns Stiftung. Februar 2019.
EY Unternehmensbarometer 2019. Befragungsergebnisse Februar 2019.
Fachkräftemangel in der Schweiz – Indikatorensystem zur Beurteilung der Fachkräftenachfrage. Staatsekretariat für Wirtschaft (SECO). 2016.https://www.netzwoche.ch/studien/2016-11-16/2024-fehlen-mehr-als-25-000-ict-fachkraefte

Quellenangaben

  1. www.oecd-ilibrary.org/sites/9ee00155-en/index.html.
  2. Zuwanderung und Digitalisierung – Wie viel Migration aus Drittstaaten benötigt der deutsche Arbeitsmarkt künftig? Johann Fuchs, Alexander Kubis und Lutz Schneider.
  3. Future of Work. The Talent Shift. Cracking the crunch to unlock growth in the future of work. Korn Ferry. 2018.
  4. www.oecd-ilibrary.org/sites/9ee00155-en/index.html.
  5. Future of Work. The Talent Shift. Cracking the crunch to unlock growth in the future of work. Korn Ferry. 2018.
  6. Future of Work. The Talent Shift. Cracking the crunch to unlock growth in the future of work. Korn Ferry. 2018.
  7. Fachkräftemangel Index Schweiz – Q1 2018. Adecco Group Schweiz und Universität Zürich.
  8. Fachkräftemangel Index Schweiz – Q1 2018. Adecco Group Schweiz und Universität Zürich.
  9. EY Unternehmensbarometer 2019. Befragungsergebnisse Februar 2019.
  10. EY Unternehmensbarometer 2019. Befragungsergebnisse Februar 2019.
  11. Fachkräftemangel in der Schweiz – Indikatorensystem zur Beurteilung der Fachkräftenachfrage. Staatsekretariat für Wirtschaft (SECO). 2016.
  12. Fachkräftemangel in der Schweiz – Indikatorensystem zur Beurteilung der Fachkräftenachfrage. Staatsekretariat für Wirtschaft (SECO). 2016.
  13. Fachkräftemangel in der Schweiz – Indikatorensystem zur Beurteilung der Fachkräftenachfrage. Staatsekretariat für Wirtschaft (SECO). 2016.
  14. Fachkräftemangel in der Schweiz – Indikatorensystem zur Beurteilung der Fachkräftenachfrage. Staatsekretariat für Wirtschaft (SECO). 2016.
  15. Fachkräftemangel in der Schweiz – Indikatorensystem zur Beurteilung der Fachkräftenachfrage. Staatsekretariat für Wirtschaft (SECO). 2016.
  16. www.netzwoche.ch/studien/2016-11-16/2024-fehlen-mehr-als-25-000-ict-fachkraefte.
  17. Fachkräftemangel in der Schweiz – Indikatorensystem zur Beurteilung der Fachkräftenachfrage. Staatsekretariat für Wirtschaft (SECO). 2016.