«Zeigen, was der Aargau zu bieten hat»

Im Jahr 2011 lanciert, wurde die Fachkräfteinitiative (FKI) des Bundes Anfang 2019 in die ordentliche Politik überführt. Aufbauend auf diesem Massnahmenpaket hat der Kanton Aargau spezifische Initiativen entwickelt. Marietta Frey von der kantonalen Standortförderung blickt zurück, schaut voraus und sagt, was den Aargau als Lebens- und als Arbeitsort so attraktiv macht.

Work Life Aargau

    Marietta Frey im Interview

Marietta Frey zeichnet beim Departement Volkswirtschaft und Inneres des Kantons Aargau als Teamleiterin Standortentwicklung unter anderem auch für die Projektleitung der Fachkräfteprojekte verantwortlich.

Marietta Frey, welche Zwischenbilanz ziehen Sie Mitte 2019 zur FKI aus Sicht des Kantons Aargau?

Der Kanton Aargau war zum Thema Fachkräfte schon vor der Lancierung der Fachkräfteinitiative durch den Bund aktiv. Ab 2011 führten wir unsere spezifische FKI Agenda. In der Arbeitsgruppe Fachkräfte, bei der auch die AIHK aktiv ist, haben wir im Jahr 2017 die Ist-Situation auf zusätzlichen Handlungsbedarf überprüft, bevor die FKI zwei Jahre später in die ordentliche Politik überführt wurde. Eine Stärke der FKI besteht darin, dass es sich um konkrete Projekte handelt – nur ein Beispiel ist Informa F zur Validierung bestehender Berufserfahrung, um effizienter zum Tertiärabschluss zu gelangen. Der Aargau ist schon früh auf Informa F aufgesprungen und hat mit der FHNW und den höheren Fachschulen ein erfolgversprechendes Angebot entwickelt.

Die FKI-Massnahmenpalette ist breit. Zu breit?

Die erwähnte Arbeitsgruppe Fachkräfte hat auch die Nutzung der Massnahmen hinterfragt. Ich denke tatsächlich, dass das Angebot nicht immer bei den Fachkräften ankommt – die Bekanntheit und Nutzung einzelner Angebote muss noch verstärkt werden.

Aber mit Massnahmen allein stellt sich der Erfolg nicht ein: Es braucht Bewegung seitens der Arbeitnehmer und der Unternehmen. Diese Partner leisten den wichtigsten Beitrag – sie profitieren aber auch am meisten von der noch besseren Aktivierung des einheimischen Potenzials. Allerdings verfügen wir bereits über eine sehr hohe Erwerbsquote, was den Massnahmen auch gewisse Grenzen setzt.

Die FKI definiert vier Massnahmenfelder. Welches dieser Felder bringt am meisten Erfolg?

In der möglichst umfassenden und alle Bildungsschichten durchdringenden Höherqualifizierung liegt am meisten Potenzial. Der Strukturwandel mit Digitalisierung, Automatisierung und mit Robotisierung zwingt uns alle zum viel zitierten lebenslangen Lernen. Gleichzeitig erzeugt die demografische Entwicklung einen Druck auf die Unternehmen, auch ältere Fachleute weiterzubilden und im Arbeitsprozess zu halten. Selbstverständlich sind diese selber zunehmend in der Pflicht, sich à jour und fachlich fit zu halten.

Bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf besteht ebenfalls Handlungsbedarf. In der Schweiz arbeiten zwar vier von fünf Frauen. Häufig in Teilzeitpensen, daraus ergibt sich ein Steigerungspotenzial. Auch bei der externen Kinderbetreuung stehen wir noch nicht da, wo wir sein sollten. Diesbezüglich bringt das Kinderbetreuungsgesetz einiges. Es gibt Indikatoren, die darauf hinweisen, dass die Gemeinden bei der Umsetzung des Kinderbetreuungsgesetzes weit fortgeschritten sind. Zum einen wird die vom Kanton offerierte Beratung sehr rege in Anspruch genommen, zum anderen sind die Bundessubventionen zur familienergänzenden Kinderbetreuung in den letzten beiden Jahren deutlich mehr nachgefragt worden.

Wo liegen Ihrer Meinung nach die grössten Herausforderungen bei der Umsetzung der Massnahmen?

Das Fazit unserer Arbeitsgruppe lautet, dass die eingeleiteten Massnahmen ausreichen, die Angebote allerdings zu optimieren oder bekannter zu machen sind. Neben Initiativen auf Bundesund Kantonsebene gibt es Aktionen von Verbänden, Unternehmen, Privaten etc. Die wirklich grossen Würfe sind gesetzlicher Natur: Schaffung von Anreizen etwa in unserem Sozial- oder Steuersystem oder die Sicherung einer liberalen Zuwanderungspolitik.

Ist der Aargau tatsächlich dermassen auf ausländische Fachkräfte angewiesen?

Im Zusammenhang mit Work Life Aargau haben wir rund 100 Unternehmen besucht: Ohne Fachkräfte aus Deutschland wären viele von ihnen nach eigenen Aussagen aufgeschmissen. Finden sie die erforderlichen personellen Ressourcen im In- und im Ausland nicht, werden Verlagerungen und Automatisierung zum Thema. Lange Vakanzen verhindern auch die Ausschöpfung und die Weiterentwicklung des bestehenden Potenzials – das führt zur Schwächung des Unternehmens und des gesamten Wirtschaftsstandorts.

Warum hat der Aargau seinen eigenen Fachkräfteindikator entwickelt?

Die Zahlen werden jährlich publiziert und erlauben einen Vergleich und das Feintuning der Massnahmen. Es ging darum, detailliertere Daten zu haben, um unsere Massnahmen noch effizienter planen und umsetzen zu können – weil die Fachkräfte auch von anderen gesucht werden, müssen wir diese noch gezielter ansprechen.

Aber insgesamt decken sich die aargauischen mit den gesamtschweizerischen Ergebnissen: Es fehlen Leute im Gesundheitsbereich, Ingenieure, in der ICT, in akademischen sowie in industriellgewerblichen Bereichen. Beim Fachkräftemangel handelt es sich also nicht um ein Phänomen fehlender Akademiker, wie das fälschlicherweise oft wahrgenommen wird.

Wie adressieren Sie die vielen Wegpendler, die im Aargau wohnen und woanders arbeiten?

Tatsächlich weist der Aargau 60 000 Zu- und rund 115 000 Wegpendler auf. Teilweise pendeln diese Fachkräfte weg, weil es ihre Stellen im Aargau nicht gibt. Ein anderer Faktor sind höhere Löhne. Vielfach wissen die Leute aber einfach nicht, dass es die gesuchten Jobs auch im Aargau gibt. In der hohen Zahl an Wegpendlern orten wir ein grosses Potenzial, um den aargauischen Bedarf an Fachkräften wenigstens teilweise zu decken.

Wie wollen Sie gut ausgebildete Arbeitnehmer und attraktive Arbeitgeber zusammenführen?

Eine unserer Befragungen bei Fachkräften hat ergeben, dass der Aargau noch Verbesserungsbedarf hat: Die erwähnte externe Kinderbetreuung ist noch schwach ausgeprägt, und es gibt ein Defizit in Bezug auf die Löhne im Vergleich zu urbanen Zentren. Während Faktoren wie die Kinderbetreuung auf der Gesetzesebene in Angriff genommen wurden und bei den Löhnen der Markt spielen muss, thematisieren wir unter Work Life Aargau die Attraktivität des Aargaus als Lebens- und vor allem als Arbeitsort. Mit Work Life Aargau wollen wir Unternehmen ein Schaufenster bieten, damit man mehr über sie in Erfahrung bringen kann. Unternehmen sollen zeigen, was sie zu attraktiven Arbeitgebern macht.

Können Sie das Konzept hinter Work Life Aargau etwas genauer erklären?

Bei Work Life Aargau handelt es sich um eine Initiative der Standortförderung, unter anderen in Kooperation mit der AIHK als strategischem Partner. Im Vorfeld haben wir Unternehmensbesuche durchgeführt, um die Lage und die Bedürfnisse im Aargau auszuloten. Bereits haben rund 50 namhafte Firmen ihre Bereitschaft erklärt, bei dieser Plattform mitzuwirken – das Echo seitens Unternehmen ist also positiv.

Das gesamte Angebot der Standortförderung besteht aus verschiedenen aufeinander abgestimmten Elementen: Unter dem Titel Karriere Aargau bieten wir eine Begegnungsplattform für Fachkräfte mit Berufserfahrung mit Aargauer Unternehmen. Aargau MyPlace zielt darauf ab, ausländische Fachkräfte vor Ort zu verankern und zum Bleiben zu veranlassen. Work Life Aargau als drittes Element bietet eine Webplattform zum Thema Fachkräfte. Die Idee ist es, das Image des Arbeits- und Werkplatzes Aargau zu stärken sowie die Unternehmen im Speziellen besser zu positionieren und zu profilieren. Firmen können Fachkräfte gezielt ansprechen und werden so zu einem Teil einer grösseren Marketinginitiative, die sie selber nicht realisieren könnten.

Viele der Firmen verfügen bereits über eine Website. Wo macht Work Life Aargau den Unterschied?

Wir sind der Meinung, dass viele KMU für viele Fachkräfte viel zu bieten haben. Das nützt aber nichts, wenn man sie nicht kennt. Um sich bei den Fachkräften erfolgreich zu bewerben, braucht es bei den KMU eine Auseinandersetzung mit sich und mit ihrer Positionierung gegenüber den Fachkräften – da wollen wir einen Anschub und Inputs liefern. Wir versuchen, die Firmen zu inspirieren, damit sie sich mutig und überraschend präsentieren, ihre Kultur und ihren Spirit vermitteln. Für die effiziente Umsetzung legen wir den Unternehmen Module vor, aus denen sie wählen können. Bei Interesse an Work Life Aargau bieten wir laufend Webinare an, um den Unternehmen den Nutzen und die Details aufzuzeigen. Für diese Webinare kann man sich bereits heute unter diesem spezifischen Link auf der Website von Aargau Services anmelden – wir freuen uns über jede Anmeldung und den Austausch!

Inwiefern profitieren Fachkräfte von Work Life Aargau?

Fachkräfte haben die Möglichkeit, gerade KMU von einer unbekannten Seite kennen zu lernen. Work Life Aargau ist ein One-Stop-Shop mit relevanten Informationen und Links zum Arbeiten und Leben im Aargau. Die digitalen und analogen Plattformen zielen darauf ab, Fachkräfte und Unternehmen zusammenzubringen.

Stichwort Arbeit und Leben: Wie lautet Ihr Werbespot für den Aargau?

Als Fachkraft im Aargau bewegen Sie sich am Puls des Geschehens. Es gibt viele hochgradig innovative Firmen, die in ihrer Nische Weltmarktführer sind – viele davon als so genannte hidden champions. Aufgrund der hohen Exportorientierung sind viele Aargauer Unternehmen international aufgestellt. Die Fachkräfte können an der Lösung spannender Herausforderungen mitwirken und profitieren so auch mittelfristig von einer hohen Arbeitsmarktfähigkeit.

Fürs Leben im Aargau sprechen die tiefen Lebenshaltungskosten. Wir haben keine grossen, aber sehr attraktive kleinere Städte, die in den einschlägigen nationalen Ratings hervorragend abschliessen. Wir verfügen über eine hohe Lebensqualität, etwa im Outdoor- oder im Wellness-Bereich mit seinen fast unbegrenzten Möglichkeiten, sei es im Jura, am Wasser oder wo auch immer. Auch kulturell hat der Aargau mit seinen einzigartigen Festivals und Konzerten, Schlössern und Burgen und seiner reichen Geschichte viel zu bieten.

Was sind die nächsten Schritte in Bezug auf die FKI?

Aus unserer Sicht braucht es keine zusätzlichen Massnahmen. Wir setzen auf die Optimierung der eingeleiteten Initiativen. Zum Beispiel gilt es auf dem Weg der Flexibilisierung und Modularisierung im Weiterbildungsbereich zügig voranzuschreiten und grundsätzlich das bestehende Angebot noch bekannter zu machen. Es gibt eine Fülle von Angeboten, wie das bereits erwähnte Informa F oder die Nachholbildung respektive die Erwachsenenlehre. So gibt es in der Schweiz über eine halbe Million Leute ohne beruflichen Lehrabschluss – dies ist ein grosses Potenzial, das es vermehrt anzusprechen und zu aktivieren gilt.

Für Unternehmen und Fachkräfte wird die Weiterbildung und -entwicklung eine dauerhafte Aufgabe bleiben. Wie wir diese bewältigen, wird meiner Meinung darüber entscheiden, wie erfolgreich unsere Wirtschaft und Gesellschaft den Fachkräftemangel und den Strukturwandel meistert.

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Marietta Frey
Teamleiterin Standortentwicklung
lic. rer. publ. HSG / MBA