«Wir sind sensationell stolz»

Im Jahr 2015 lanciert, entwickelt sich das Programm Tandem 50 plus zu einem Erfolg. So fanden rund 80 Prozent der über fünfzigjährigen Stellensuchenden im ersten Halbjahr 2019 einen neuen Job – zwei Drittel in Festanstellung. Im Gespräch mit der AIHK verrät Brigitte Basler, Programmleiterin von Tandem 50 plus, mehr über die Erfolgsgeheimnisse dieses Angebotes.

Brigitte Basler im Interview

Frau Basler, was können Sie uns zu den Hintergründen von Tandem erzählen?

Im Jahr 2013 lancierte der Kanton Aargau die Initiative «Potenzial 50plus», an der sich auch die AIHK beteiligte. Auf der Plakatkampagne waren Sujets einer älteren Person mit einem Vornamen und einer «vermeintlichen» Altersangabe zu sehen, z. B. Rosa, 26. Darunter die Auflösung: 26 Jahre Berufserfahrung und der Slogan: «Die Qualifikation zählt, nicht das Alter». Die Initiative zielte darauf ab, Arbeitgeber und die Öffentlichkeit für das Thema 50+ zu sensibilisieren.

Bei der Suche nach einem Angebot für die direktbetroffenen Stellensuchenden stiess man auf das Programm Tandem des Kantons St. Gallen. Die zwei Kantone beschlossen eine Kooperation, benevol Aargau verantwortete die Umsetzung. Das Programm wurde im Juni 2015 im Aargau gestartet.

Warum die Zielgruppe 50+?

Diese Personen sind weniger häufig arbeitslos als jüngere. Wenn sie jedoch die Arbeit verlieren, dann befinden sie sich länger auf Arbeitssuche und beziehen mehr und auch höhere Taggelder. Dass sie in ihrem Alter nichts mehr finden, das stimmt allerdings nicht.

Trotzdem: Es gibt Vorbehalte gegen Arbeitnehmende 50+ ...

Natürlich kennen wir diese Vorurteile. Aus unserer Erfahrung treffen diese jedoch nicht zu. Leute über fünfzig, die neu zu einer Firma stossen, sind unvoreingenommen. Sie bringen aufgrund ihrer langen beruflichen Erfahrung oft frischen Wind und andere Ideen ein. Sie freuen sich auf ihre Arbeit und darauf, sich und ihr Wissen einzusetzen. Aus meiner Sicht wird der Zenit der Schaffenskraft erst mit über fünfzig erreicht. Ausserdem: In diesem Alter stehen noch zehn bis fünfzehn Jahre Erwerbsleben an.

Unter welchen Bedingungen kann man die Dienstleistungen von Tandem in Anspruch nehmen?

Tandem 50 plus wird von der Arbeitslosenversicherung finanziert und richtet sich an erwerbslose Arbeitskräfte über 50, die beim RAV gemeldet sind und einen Anspruch auf Taggelder haben. Zudem braucht es die Bereitschaft, aktiv an diesem freiwilligen Programm mitzumachen, sich begleiten zu lassen, seinen Beitrag im Tandem zu leisten. Die Teilnehmenden müssen sich mit sich selber auseinandersetzen und auch dorthin gehen, wo es durchaus «weh tun» kann: sich fragen, warum man mehrmals den Job verloren hat, weshalb man von bisherigen Vorteilen loslassen muss, wo man im Vergleich zu Jüngeren aufgrund der Qualifikationen nicht mithalten kann. Denn es gibt Leute, die seit ihrer Lehre keine Weiterbildung absolviert haben. Sie haben oft eine durchaus anspruchsvolle Arbeit über Jahre effizient erledigt, können aber keinen anerkannten Abschluss vorweisen. Und wenn bei langer Betriebszugehörigkeit der Vorgesetzte mehrmals gewechselt hat, gibt es keine Zwischenzeugnisse – das Fehlen von Belegen für das Know-how macht die Jobsuche unnötig schwierig.

Gibt es den typischen Tandem-Teilnehmenden?

Wir haben von angelernten Hilfsarbeitenden bis zum ehemaligen CEO alles. Wir kennen verschiedene Biografien und unterschiedliche Bedürfnisse. Die Mehrheit kommt aber aus dem kaufmännischen Umfeld oder dem Verkauf. Den meisten wurde aufgrund eines Vorgesetztenwechsels, bezeichnet als Umstrukturierung, gekündigt und fast alle haben diesen Schock noch nicht ganz abgelegt. Der Kündigung vorangegangen ist oft eine Zeit mit enormem Druck und Angst, die Stelle zu verlieren. Dieser Dauerstress führte dann auch tatsächlich dazu, dass die Leute ihre Leistung nicht mehr erbringen konnten.

Wie sieht der administrative Ablauf für die Aufnahme im Tandem aus?

Der ist einfach. Wer am Tandem teilnehmen will, der darf das und kann die Anmeldung über das RAV auslösen.
Tandem ist eine Ergänzung zu anderen Massnahmen der RAV, die im vorgegebenen Rahmen parallel weiterlaufen. Die Leute bewerben sich mit dem üblichen Dossier bei uns. So sehen wir bereits, wo punkto Unterlagen und Werdegang Potenzial besteht. Danach laden wir die Leute zu einem ausführlichen Aufnahmegespräch ein. Dies ist für uns das zentrale Element: Wir nehmen uns viel Zeit, analysieren die Biografie, die Gründe für die negativen oder ausbleibenden Reaktionen auf die unzähligen Bewerbungen. Wir schätzen ab, wo wir den Hebel ansetzen können, dann skizzieren wir die Ziele für die Tandemzeit. Sind der Bewerber und wir bereit, den Weg gemeinsam zu gehen, beginnt für uns die Suche nach dem geeigneten Mentor.

Wo setzt Ihr Mentoring an?

Wir wollen die Potenziale und Kompetenzen der Menschen ausloten, ihr Selbstbewusstsein und ihr persönliches Auftreten fördern, ihnen alternative Wege aufzeigen. Sie sollen die beruflichen Möglichkeiten ausschöpfen, sich rasch wieder in den Arbeitsmarkt integrieren. Um dieses Ziel zu erreichen, gibt es kein vorgefertigtes Programm und keine Checkliste. Jedes Tandem wird aus einem Stellensuchenden sowie einem Mentor neu konstituiert, legt den eigenen Fokus, definiert die individuelle Herangehensweise. Wir führen jedes Jahr 180 bis 200 Gespräche und nehmen zwischen 60 und 90 Personen auf. Wir sind ein kleines Programm, das nur aufgrund der Freiwilligkeit unserer Mentorinnen und Mentoren so gut funktioniert.

Nach welchen Kriterien wählen Sie die Mentoren für die Tandembildung aus?

Unser Ziel ist die perfekte Kombination. Wir wissen, woran die Stellensuchenden gezielt arbeiten müssen, gleichzeitig versuchen wir Branchenkenntnisse und Aspekte der geografischen Nähe zwischen Mentor/in und den Teilnehmenden zu berücksichtigen. Am wichtigsten ist und bleibt aber die berühmte Chemie: Wenn’s passt zwischen den beiden, ist die beste Voraussetzung für den Erfolg bei der Stellensuche geschaffen.

Welches ist das Erfolgsgeheimnis hinter dem Mentoring-Konzept?

Der Mentor bewegt sich ausserhalb des gewohnten Systems, gehört weder zum verlängerten Arm der Arbeitslosenversicherung noch zum privaten Umfeld. Wenn der Stellensuchende zudem realisiert, dass er freiwillig und unentgeltlich unterstützt wird und der Mentor dafür seine Freizeit einsetzt, dann steigt die Bereitschaft, sich noch mehr reinzuknien. Daraus wächst neben der Vertrautheit die Verbindlichkeit: Ein Tandem, auf dem der Stellensuchende vorn sitzt und lenkt. Der Mentor sitzt hinten, gibt Schub, beschleunigt oft, bremst manchmal, hilft mit sinnvollen Inputs. Die Vertrauensbasis zwischen den Tandempartnern ist im Endeffekt das Erfolgsgeheimnis von Tandem.

Wie finden Sie Mentorinnen und Mentoren?

Meistens ist es Mund-zu-Mund-Propaganda, Empfehlungen aus unserem Netzwerk, Mentoren, die andere Leute ansprechen. Beiträge in der Presse helfen zusätzlich, dass sich Leute auch über unsere Webseite melden oder unter www.benevol-jobs.ch nach einem Engagement suchen. Die Interessenten laden wir zum persönlichen Gespräch ein. Dabei merken wir schnell, ob es gegenseitig passt oder nicht, ob unser Programm das richtige Engagement ist.

Was ist die Motivation hinter diesem freiwilligen Engagement?

Oft sind es Leute, die sagen, dass es Zeit für sie sei, der Gesellschaft etwas zurückzugeben, entweder weil sie viel «Glück im Leben» gehabt haben oder auch aus eigener Erfahrung bei der Stellensuche mit über 50. Viele stehen zudem ein paar Jahre vor der Pensionierung und wollen ihre berufliche Erfahrung auch in der Freiwilligenarbeit weitergeben, sich aktiv beteiligen und einen Prozess mitgestalten.

Wichtig ist sicher auch, dass es sich bei uns um ein auf jeweils vier Monate befristetes Engagement handelt und man in der Regel einmal bis zweimal im Jahr zum Einsatz kommt.

Aber Tandem ist kein Stellenvermittler?

Wenn Tandem etwas nicht ist, dann ein Stellenvermittler, viel eher ein Stellenermöglicher. Wir versuchen, andere Wege zum neuen Job zu skizzieren. Dazu gehört die konkrete Ausarbeitung des Plans «was, wo, mit wem und für wen» will ich in Zukunft arbeiten. Was ist realistisch und wo passe ich hin? Darauf folgt die gezielte Suche nach (Insider-)Informationen über den Arbeitsmarkt respektive die suchenden Arbeitgeber, die massgeschneiderte Antwort auf die ausgeschriebene Stelle, die Positionierung als ausgewiesene Fachkraft und nicht als Bittsteller.

Welches sind nach Ihrer Erfahrung die Erfolgsfaktoren für die Stellensuchenden 50+?

Das hängt von drei Faktoren ab: Zuoberst steht das Gesamtpaket namens berufliche Biografie mit der Aus- und Weiterbildung, dem Know-how und der Erfahrung. Ein Dossier muss betonen, welche spezifischen Fähigkeiten in Form fachlicher und sozialer Kompetenzen dem Unternehmen von Nutzen sein können – die Arbeitgeber wollen das sehen, was sie in ihren Stelleninseraten verlangen. Daraus resultiert die Plausibilität meiner Bewerbung. Als zweiter Erfolgsfaktor folgt die Branche, das Arbeitssegment und der Arbeitsort, in denen ich suche. Der neue Arbeitgeber muss auch die Haltung vertreten, dass die Qualifikation zählt und nicht das Alter. Wenn sich eine Firma jedoch jemanden spezifisch zwischen 20 und 40 wünscht, etwa um das Team zu verjüngen, dann haben 50 plus Bewerber/innen kaum eine Chance.

Und am Ende braucht es auch einfach Glück: im richtigen Moment am richtigen Ort zu sein und an die passenden Informationen und Kontakte zu gelangen.

Welches sind die Killerkriterien bei der Stellensuche 50+?

Es sind fehlende Abschlüsse oder mangelhafte Arbeitszeugnisse; letztere sind oft auch mit schwierigen Aussagen behaftet, was einen neuen Arbeitgeber skeptisch macht.

Wie lautet Ihre Zwischenbilanz nach vier Jahren Tandem 50 plus?

Zuerst die weichen Faktoren: Viele Leute bedanken sich für die optimale Vermittlung mit einem passenden Mentor. Zudem haben die Stellensuchenden eine Veränderung durchlebt, die sich an Gesichtern und Körperhaltungen ablesen lässt – vor allem, wenn mit Hilfe von Tandem eine Stelle gefunden wurde. Das Leuchten in den Augen ist ein wunderbares Feedback. Über den messbaren Erfolg sind wir sensationell stolz: Beinahe 80 Prozent unserer Teilnehmenden im ersten Halbjahr 2019 haben eine neue Stelle gefunden, davon 63 Prozent mit unbefristeten Arbeitsverträgen. Das ist der bisherige Spitzenwert aus den vier Jahren und spricht für unser Mentoring-System.

Welches ist Ihr persönlicher Erfolg im Zusammenhang mit Tandem?

Für mich sind es die mehr als 100 Mentorinnen und Mentoren, die ich kennen lernen durfte. Mir sind Menschen mit einem beruflichen Palmarès begegnet, die ich nicht kennen gelernt hätte. Ich schätze die Zusammenarbeit mit diesen engagierten Menschen sehr.

Seitens Stellensuchender sind es die Geschichten dieser Menschen, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Die froh sind, dass wir sie mit unserem Programm Tandem auf ihrer Arbeitssuche begleiten. Viele kamen zurück in die Arbeitswelt und somit ins Leben. Man darf nicht vergessen: Arbeit hält gesund, verleiht Sinn, macht uns zu Menschen inmitten und nicht am Rande der Gesellschaft. Der Mensch ist dazu geboren, tätig zu sein, ob das für Geld oder eine andere Anerkennung ist.

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Brigitte Basler
Programmleiterin
Tandem 50 plus / benevol Aargau