«Es gibt nicht den Fachkräftemangel»

Als starkes Indiz für eine florierende Wirtschaft akzentuiert sich der Fachkräftemangel nicht allein im Aargau. Um die benötigten Fachkräfte zur Verfügung zu stellen, lancieren Bund und Kanton eine breite Palette an Massnahmen. Für die Konkretisierung braucht es nach Ansicht von Peter Lüscher, Geschäftsleiter der AIHK, einen Effort aller Beteiligten. Gleichzeitig plädiert er für eine differenzierte Betrachtung der Ausgangslage.

    Peter Lüscher im Interview

Herr Lüscher, der Fachkräftemangel ist ein aktuelles Thema. Welches sind in diesem Zusammenhang Aargauer Besonderheiten?

Der Aargau ist ein Kanton mit einem überdurchschnittlich hohen Anteil an Beschäftigten in der Industrie. Daraus resultieren natürlich auch spezifische Bedürfnisse bezüglich Fachkräfte.
Der Aargau wächst zudem trotz bereits hoher Bevölkerungszahl nach wie vor stark. Von den Einwohnern pendeln aber viele für die tägliche Arbeit weg in andere Kantone, dafür verzeichnen wir viele Grenzgänger.
Das alles erschwert eine zahlenmässige Einschätzung des Fachkräftemangels – insgesamt leben wohl mehr Fachkräfte im Aargau als hier arbeiten.

Welche Feedbacks erhält die AIHK von ihren Mitgliedern bezüglich Fachkräftemangel?

Seit Jahrzehnten führt die AIHK jährlich eine Wirtschaftsumfrage unter ihren Mitgliedern durch: Wenn wir die Resultate von 2019 mit jenen des Vorjahrs vergleichen, dann hat sich der Fachkräftemangel verschärft. Die befragten Unternehmen insgesamt schätzen die Verfügbarkeit qualifizierten Personals heute als befriedigend ein. Für die Industrie liegt der Wert jedoch etwas tiefer als für die Dienstleistungsbranche. Damit sind wir im Aargau nicht allein: Laut Creditreform bekunden vor allem KMU in der ganzen Schweiz zunehmend Probleme, qualifizierte Mitarbeiter zu finden.

Ein Indikator für die Entwicklung des Fachkräftemangels ist der Lehrstellennachweis LENA: für den Lehrbeginn 2019 wurden im Aargau 9 Prozent weniger Lehrstellen angeboten als im Vorjahr. Dennoch gab es im April 2019 6 Prozent mehr Lehrstellen, die nicht besetzt werden konnten, als im Vorjahresmonat.

Und wie beurteilt die AIHK die aktuelle Situation in Bezug auf den Fachkräftemangel?

Differenziert. Es gibt Branchen, Betriebe und einzelne Berufe mit ausgeprägtem Fachkräftemangel und solche mit einem eher hohen Personalangebot. Fachkräftemangel herrscht sicherlich im Bereich Gesundheit, in der IT und in der Technik. Gleichzeitig gibt es Menschen, die aufgrund fachlicher respektive sprachlicher Defizite keine Stelle finden, obwohl es Vakanzen gibt. Da passen Anforderungen und Qualifikationen nicht zusammen.

Jedes Unternehmen steht auch in Bezug auf die Besetzung der Vakanzen vor spezifischen Herausforderungen. Diese sind einzeln und im Detail zu betrachten respektive anzugehen. Es wäre deshalb falsch zu sagen, es gibt den einen Fachkräftemangel.

Und von welchen Zukunftsszenarien geht die AIHK punkto Fachkräftemangel aus?

Die demografische Entwicklung wird zum Problem für alle Betriebe: Ein substanzieller Teil der Erwerbstätigen tritt in absehbarer Zeit in den Ruhestand. Gleichzeitig folgen weniger Leute in den Arbeitsprozess. Schon heute lässt sich in den Betrieben feststellen, dass das Durchschnittsalter der Belegschaft steigt. Zwar ist absehbar, wann die Mitarbeitenden ausscheiden, aber nicht, ob eine Nachfolge zur Verfügung steht.

Wie bereiten sich Unternehmen auf vorhersehbare Fachkräfteabgänge vor?

Sie müssen sich frühzeitig überlegen, welche zentralen fachlichen Ressourcen sie wann benötigen, um funktions- und wettbewerbsfähig zu bleiben. Es braucht Zeit und Begleitung, um diese Personen auf kommende Aufgaben vorzubereiten. Daraus eventuell resultierende, temporäre Doppelbesetzungen sind nicht mehr als Investitionen in die nahtlose Weiterführung der Geschäftstätigkeit. Investitionen in einen Know-how-Transfer sind ebenso wichtig wie jene in den Technologietransfer.

Lösen die Automatisierung, die Digitalisierung und die Industrie 4.0 das Fachkräfte-Problem nicht automatisch?

Viele Unternehmen treiben die Digitalisierung und Automatisierung tatsächlich seit langem voran: nicht nur, um Kosten zu sparen, sondern eben auch, um fehlende Fachkräfte zu ersetzen. Innovationen, Automatisierung und Digitalisierung sind auch Massnahmen gegen den Fachkräftemangel – exportstarke Kantone wie der Aargau sind aber von jeher gezwungen zu optimieren, um mit den ausländischen Anbietern am Markt mithalten zu können.

Was unternimmt die AIHK konkret gegen den Fachkräftemangel?

Weder die AIHK, noch der Staat oder die Unternehmen können den Fachkräftemangel allein erfolgreich bekämpfen. Wir von der AIHK arbeiten auf drei verschiedenen Gebieten: Auf politischer Ebene unterstützen wir die Weiterentwicklung und Bekanntmachung unseres Bildungssystems, etwa mit Hilfe der Berufsberatung, die die ganze Bandbreite von beruflichen Möglichkeiten aufzeigt. Wir unterstützen im Zusammenhang mit dem neuen Aargauer Lehrplan, dass die berufliche Orientierung auf sämtlichen Ebenen der Oberstufe mehr Gewicht erhält. Einen zweiten Fokus legen wir auf die Stärkung unseres Netzwerks zwischen Betrieben, Politik und Verwaltung. Und drittens unterstützen wir Unternehmen praktisch, indem wir ihnen Hinweise zur Lösung eines konkreten Problems geben.

Auf welche Massnahmen setzt der Kanton Aargau, um den Fachkräftebedarf zu decken?

Der Kanton fokussiert auf den Fachkräfteindex und betont die Attraktivität des Aargaus zum Leben und Arbeiten. Hier bereits ansässige Fachkräfte sollen motiviert werden in aargauischen Unternehmen zu arbeiten. Auswärtige sollen einen Stellenantritt und eine Wohnsitznahme im Aargau ins Auge fassen. Parallel dazu gibt es verschiedene weitere Massnahmen, die ebenfalls zur Linderung des Fachkräftemangels beitragen, bspw. zur Verbesserung der Vereinbarkeit von Beruf und Familie sowie Massnahmen zur (Wieder-)Integration älterer Personen, Arbeitsloser, von IV-Bezügern oder vorläufig Aufgenommenen und Flüchtlingen in den Arbeitsmarkt.

Wie passen Fachkräftemangel, weniger ausgeschriebene und mehr vakante Lehrstellen zusammen?

Die aktuelle Situation zeigt, dass wir einen Fachkräftemangel auf verschiedenen Ebenen haben. Auf die Lehrbesetzung wirkt sich die in letzten Jahren vergleichsweise geringe Zahl von Schulabgängern negativ aus. Wenn sich Lehrstellen über mehrere Jahre nicht besetzen lassen, werden sie vielleicht gar nicht mehr ausgeschrieben. Können heute keine Lernenden ausgebildet werden, fehlen in einigen Jahren Berufsleute. Gemäss Prognosen steigt die Zahl der Schulabgänger in den kommenden Jahren. Trifft das ein, dürfte sich die Lehrstellensituation wieder etwas entspannen.

Sie haben den Aargau als Industriekanton erwähnt. Was bedeutet das in Bezug auf veränderte Anforderungen?

Das Qualifikationsniveau im klassisch industriellen Bereich ist angestiegen: Über 50 Prozent der Mitarbeitenden verfügen heute v.a. in grossen Unternehmen über einen Tertiärabschluss. Der Mensch bedient nicht mehr nur Maschinen, sondern Steuerungen, er programmiert und optimiert, was höhere Qualifikationen voraussetzt.

Aber ob im technischen oder im kaufmännischen Bereich: die Anforderungen sind gestiegen, werden komplexer und können nicht mehr allein in einer klassischen Lehre von drei oder vier Jahren abgedeckt werden. Darum erhält die gezielte Weiterbildung noch viel mehr Gewicht.

Kommt man am lebenslangen Lernen überhaupt noch vorbei?

Nein, das ist heute in allen Bereichen notwendig. Im lebenslangen Lernen liegt viel Potenzial im Kampf gegen den Fachkräftemangel.

Wenn die Arbeitnehmer nicht aktiv werden, um die künftigen betrieblichen Anforderungen zu erfüllen, sollten die Unternehmen die Initiative als Teil ihrer Führungsaufgabe ergreifen , Mitarbeiter zur Weiterbildung motivieren und sie dabei unterstützen.

Wie reagieren Unternehmen, die eine zentrale Stellen nicht besetzen können?

Da gibt es verschiedene Ansätze: Das reicht von der Kompensation der fehlenden Ressourcen durch die anderen Mitarbeiter über den Kontakt zum RAV bis zur Zusammenarbeit mit Stellenvermittlern und Berufskollegen, um die benötigten Arbeitskräfte für eine definierte Zeit auszutauschen. In diesem Zusammenhang sind regionale Netzwerke von besonderer Bedeutung. Wichtig sind auch Organisationen, die ältere Arbeitskräfte vermitteln.

Langfristig wird versucht, interne Mitarbeiter nachzuziehen, auf neue Aufgaben und Funktionen vorzubereiten. Im schlechtesten Fall führen Vakanzen dazu, dass Opportunitäten am Markt nicht wahrgenommen, Nachfolgen nicht geregelt und Unternehmen zur Aufgabe der Tätigkeiten gezwungen werden.

Sie haben die Bedeutung von Netzwerken angesprochen. Die AIHK pflegt ebenfalls ein dichtes Netzwerk...

Wir bewegen uns auch in der Thematik Fachkräftemangel an unterschiedlichen Orten – von 50+ mit Tandems zur Unterstützung bei der Stellensuche bis zur Flüchtlings- und Behindertenintegration. Wir informieren und kontaktieren Firmen, suchen mit den verschiedenen Anspruchsgruppen nach Lösungen. Wir motivieren Unternehmen, sich zu beteiligen, um das vorhandene Potenzial an Fachkräften im Sinn der Fachkräfteinitiative des Bundes auszuschöpfen.

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Peter Lüscher
Geschäftsleiter AIHK
lic. iur.